Scylla



Widersprüchlich sind die Überlieferungen über Herkunft und Gestalt der Scylla. Typhon und Echidna seien ihre Eltern – sagen die einen. Ihr Vater Typhon entzieht sich einer eindeutigen Charakterisierung. Als ein Ungeheuer der Urzeit, als ein verderblicher Sturmwind, oder aber als vulcanischer, flammenspeiender Erdriese wird er beschrieben. Einig ist man sich nur über Echidna, die Mutter: ein fabelhaftes Wesen, oben eine schöne Jungfrau, unterhalb in eine ungeheure Schlange auslaufend. Zahlreiche Ungeheuer sind die Kinder dieses schrecklichen Paares: die Chimära, der hundertköpfige Drachenwächter der Äpfel der Hesperiden, der colchische Drache, die neunköpfige lernäische Schlange und der Cerberus sind nur einige der Geschwister Scyllas.

Die Beschreibung der Scylla bei Homer wird dieser Herkunft gerecht:

Ja, sie hat eine Stimme wie die eines neugeborenen Hündchens, sie selber ist aber ein Ungetüm, ein schlimmes, und niemand würde sich freuen, der sie sähe, auch nicht wenn ein Gott ihr begegnete. Ja, und zwölf Füsse hat sie, alle unförmig, und sechs Hälse, überlange, und auf jedem ein greuliches Haupt, und darinnen drei Reihen Zähne, dicht und gedrängt, erfüllt mit schwarzem Tode. Bis zur Mitte steckt sie in der hohlen Grotte, hält aber die Köpfe heraus aus der schrecklichen Grube, und fischt dort, rings um die Klippe tastend, Delphine und Hundsfische [...]
(Odyssee: 12. Gesang)

Kein Schiffer entgeht ihr, und auch als Odysseus unter ihrem Felsen vorüber fährt, grapscht sie sich sechs seiner Gefährten.


Doch bereits Homer nennt als ihre Mutter die Nymphe Krataiis (Crataeis). Ovid hingegen berichtet, wie die strahlende Schönheit verwandelt wurde. Selbst die Tochter einer Nymphe, fühlte sich Scylla mehr den Meernymphen hingezogen, denn ihren zahlreichen Verehrern. In einsamen Buchten streifte sie – natürlich ohne Kleider – umher. So sah sie der Meergott Glaukon und entbrannte augenblicklich in Liebe. Um sie zu gewinnen, erzählte er ihr die Geschichte seiner Verwandlung. Doch Scylla traute diesem göttlichen Wesen mit dem blaugrünen Haar und dem Fischschwanz noch weniger, als ihren Verehrern. Sie liess ihn reden und entschwand. Glaukon war wütend und klagte der Circe sein Liebesleid. Sie solle ihm die Scylla mit ihrer Zauberkunst gefügig machen.

Dies war kein weiser Entschluss: Denn Circe ihrerseits war auf Glaukon scharf. Als der Meergott sie zurückwies und verkündete, seine Liebe werde ewig der schönen Jungfrau gehören, sann Circe auf Rache. Ihre Rivalin musste beseitigt werden.


5. Messina. Museo Nazionale. Scilla. Montorsoli. – ohne Angaben zum Herausgeber  

Dort war eine kleine Bucht, die sich zu einem Bogen krümmte: ein willkommener Ruheplatz für Scylla. [...] Dieses Wasser verhext die Göttin im voraus und verseucht es mit grauenerregenden Giften: hier versprengt sie Säfte, die sie aus schädlichen Wurzeln herausgepresst hat, und mit ihrer Zauberstimme murmelt sie zu dreimal neun Malen einen dunklen Spruch, ein Gewebe nie gehörter Worte. Scylla kommt. Kaum ist sie bis zur Leibesmitte ins Wasser gestiegen, sieht sie ihren Unterleib von bellenden Ungeheuern entstellt. Erst glaubt sie, diese gehören nicht zu ihrem Körper, fährt vor ihnen zurück, verjagt sie und fürchtet sich vor den frechen Hundeschnauzen; aber sie zieht die Tiere, vor denen sie flieht, mit sich fort; und als sie ihre Schenkel, ihre Beine, ihre Füsse sucht, findet sie anstelle dieser Glieder die Rachen von Höllenhunden vor. So steht sie auf rasenden Kläffern; ihre verstümmelten Weichen und ihr Leib reiten auf dem Rücken wilder Tiere.
(Metamorphosen XIV: 52-68)

In ähnlicher Gestalt begegnet uns Scylla auf dieser Ansichtskarte: Ihre Beine laufen in Fisch- oder Delphinschwänze aus, ihre Hüften sind von Hundeköpfen umgeben. Das Gesicht der ehemaligen Schönheit ist in Ekel und Angst zur Fratze verzerrt.




Quellen

  • Homer: Die Odyssee. - Deutsch von W. Schadewaldt; Rowohlts Klassiker Bd. 29: 332 S., Reinbek b. Hamburg (Rowohlt), 1958 / 1986 (148-151 Tsd.).
  • P. Ovidius Naso (43 v. - 17 n. Chr.): Metamorphosen. - übertragen von M. v. Albrecht, Goldmann Klassiker Bd. 7513, 480 S., München (Wilhelm Goldmann Verlag), 1981 / 1988.
  • Vollmer (1874): Wörterbuch der Mythologie. 3. Aufl., LXX & 456 S., Stuttgart (Hoffmann'sche Verlagsbuchhandlung). - 7. Reprint 1990, Zentralantiquariat der DDR, Reprintverlag Leipzig; Ausgabe für Fourier Verlag, Wiesbaden.
  • [Ansichtskarte]: 5. Messina. Museo Nazionale. Scilla. Montorsoli. – ohne Angaben zum Herausgeber.


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© MMIII by J. Georg Friebe
Erstellt am 11.01.2003