Seelendrachen


Ein bemerkenswertes Kunstdenkmal der Hochromanik findet sich in der Kaiserpfalz zu Goslar im Harz. Die beiden Torbögen der Domkapelle werden von einer auf einem Löwen ruhenden Säule getragen. Ein Inschrift am Kapitell nennt als Erbauer oder Stifter einen gewissen Hartmann. Interessanter ist aber die Verzierung des Kapitells: Alle vier Seiten zeigen jeweils einen menschlichen Kopf, aus dessen Mund zwei Fabeltiere herausquellen. Der dreifach gewundene Hinterleib, noch teilweise im Mund verborgen, ist der einer Schlange. Doch der Körper trägt Vogelflügel, und der Kopf könne vom Wolf entlehnt sein. Nur ein Beinpaar hat dieses Tier. Viel ist über die Bedeutung der Darstellung gerätselt worden.

  Hartmannsäule, Goslar - Foto © J. Georg Friebe


Der Paläontologe Othenio Abel fand eine eigenwillige Erklärung: Wie beim Tod verlässt nach alter Vorstellung auch im Schlaf die Seele den Körper. Morgens findet sie wieder zurück, und der Schläfer erwacht. Nur beim Tod ist das Entweichen der Seele endgültig. Schlaf und Tod werden daher Brüder genannt. Selbstverständlich kann die Seele den Menschen nur durch eine natürliche Körperöffnung verlassen. Keinesfalls ist sie dem Unflat gleichzustellen. Einzig der Mund genügt den hohen Anforderungen. Durch ihn atmet der Mensch den Odem des Lebens, durch ihn bezieht er die Kraft des Lebens aus Speis und Trank. In dieser Vorstellung wurzeln Gewohnheiten, die heute nur mehr als Zeichen der Höflichkeit, manchmal sogar nur als konventionelle Lüge wahrgenommen werden. Dem Niesenden wünscht man "Gesundheit" – früher hiess dieser Wunsch "Helf GOtt", denn es bestand ja immerhin die Gefahr, sich die Seele aus dem Leibe zu niesen. Und wer sich beim Gähnen die Hand vor den Mund hielt, wollte damit verhindern, dass der Teufel in ihn eindringen konnte um seine Seele zu rauben.

Abel glaubt nun, dass das aus dem Mund dringende Drachenpaar die Seele symbolisiert. Sie vereinigt die Eigenschaften dreier mächtiger Tiere: Schlange, Vogel und Wolf. Er verweist auf die ägyptische und griechische Antike, wo die Seele bisweilen als Schlange dargestellt wurde. Und die bekanntesten Attribute des Hermes Psychopompos, des Führers der Seelen in die Unterwelt, sind der von zwei Schlangen umwundene Stab sowie Flügelhelm und Flügelschuhe. Das Bild von der Seele in Vogelgestalt ist in deutschen Sagen und Märchen verbreitet.

Es ist schwer zu beurteilen, ob Abel recht hat. Seine Betrachtungen veröffentlichte er 1939, und das Buch ist gemäss der Ideologie seiner Zeit gefärbt. Es ist mühsam, über die Germanenverehrung hinweg zu lesen, und die objektivierbaren Fakten heraus zu filtern. Der Abel´sche Seelendrache fand jedenfalls keinen Eingang in die Kunstgeschichte. Mag sein, dass die Kunsthistoriker ein Buch über Fossilien im Volksglauben platterdings ignorierten, mag sein, dass Abel sich geirrt hatte.


Seelendrachen in der Stiftskirche zu Hamersleben - Foto © J. Georg Friebe  

Tatsache ist jedoch, dass verwandte Darstellungen gar nicht so selten angetroffen werden. Abel führt zusätzliche Beispiele aus Goslar und Quedlinburg an. Auf einer Urlaubsreise in Sachsen-Anhalt konnte ich weitere Darstellungen entdecken.

Die Stiftskirche zu Hamersleben beherbergt gleich zwei Kapitelle mit diesem Motiv. Im einen Fall sind es wiederum Drachen, die aus dem Mund quellen.


Entstellte Seelendrachen in der Stiftskirche zu Hamersleben - Foto © J. Georg Friebe  

Doch am anderen Kapitell wählte der Künstler eine neue Darstellung. Aus den Drachen wurden Pflanzenranken, aus dem Seelensymbol wurde ein dekoratives Ornament. Gleichzeitig verliert das Antlitz seine menschlichen Züge. Beide Darstellungen sind vor 1141 entstanden.



Etwas jünger ist eine Darstellung im Kreuzgang des Klosters Gernrode (um 1170). Hier ist es wieder ein Menschenkopf, aus dessen Mund blattartige Ornamente hervordringen. Vielleicht ging bereits in dieser Zeit das Wissen um die Bedeutung der Darstellung verloren, und die alten Motive wurden zum reinen Dekor.

  Entstellte Seelendrachen im Kreuzgang zu Gernrode - Foto © J. Georg Friebe



Quellen

  • Abel O. (1939): Vorzeitliche Tierreste im Deutschen Mythus, Brauchtum und Volksglauben. - 304 S., Jena (Gustav Fischer).
  • [Fotos] © J. Georg Friebe


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© MMII by J. Georg Friebe
Erstellt am 09.06.2002