Der feuerige Tatzelwurm
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Das Bayerische Geotopinventar – der Kataster der "erdwissenschaftlichen Sehenswürdigkeiten" Bayerns – verzeichnet unter der Nummer 187R003 ein Naturdenkmal mit einem merkwürdigen Namen: Die "Wasserfälle am Tatzelwurm". Etwa 210 Millionen Jahre alter Kalkstein der obersten Trias bildet in Oberaudorf nur wenigen Kilometer von der österreichischen Grenze eine natürliche Schwelle, in die sich das Wasser eingegraben hat. Über zwei Felsstufen stürzt das Wasser, um dann in der engen und dunklen Aschauer oder Gumpei-Klamm zu verschwinden. Von oben sieht man in der Gischt oft das Schillern eines Regenbogens, von unten dringen Getöse, Kühle und Feuchtigkeit empor.
Kein Wunder, dass man in Wasserfall und Klamm die Wohnstätte eines Drachens – oder hier eben hier eines Tatzelwurms – sehen wollte. Denn bereits im Jahre 1085 wurde vermerkt, dass die Gegend um das heutige Bayrischzell "eine wüste Einsamkeit, die Heimat wilder Tiere und ein Drachenlager war".
Später wurde auch das Aussehen des Tatzelwurms beschrieben: Das Untier hatte ein riesiges Maul, das, grösser als das eines Krokodils, mit messerscharfen, spitzen Zähnen gespickt war. Aus seinen Nüstern drang Rauch und Feuer, und der Schuppenpanzer glänzte in allen Farben des Regenbogens. Sechs stämmige, kurze Beine trugen den sich nach allen Seiten windenden Körper. Und natürlich hatte der Drache auch Fledermausflügel (und entsprach damit so überhaupt nicht dem Bild, das man sich für gewöhnlich von einem Tatzelwurm macht). Seine alltägliche Nahrung waren allein dahin wandernde Pilger, die er zerfleischte und mit Haut und Haaren verschlang. Nicht der kleinste Knochen wurde von ihnen je wieder gefunden! Eine besondere Delikatesse waren aber junge Sennerinnen der umliegenden Almen. Heute munkelt man, dass das Ungeheuer verhungern musste, seit die Pilger mit Auto und Bus anreisen, und auch keine hübschen, jungfräulichen Sennerinnen mehr zu finden sind!
In jüngerer Zeit wurde an der wildromantischen Stelle ein Ausflugs-Gasthaus errichtet. Es lag nahe, die Wirtschaft nach dem Untier zu benennen, das so lange Zeit die Gegend unsicher gemacht hatte: "Zum feurigen Tatzelwurm". Am 15. August 1863 konnte der Besitzer Simmerl Schweinsteiger mit grossem Gepränge, Böllerschüssen und viel Prominenz die Eröffnung feiern. Ein Höhepunkt der Feierlichkeiten war die Enthüllung eines Tatzelwurm-Bildes des badischen Hofmalers August Vischer. Kein Geringerer als Joseph Viktor von Scheffel hatte für diesen Anlass ein Gedicht geschrieben, das dann von einem Herrn Allfeld "mit seiner wohlklingenden und mächtigen Baßstimme" vorgetragen wurde.
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Joseph Viktor von Scheffel Der Tazzelwurm
Festlied bei Aufstellung des Herbergschildes "Zum feurigen Tazzelwurm" am Bergwirtshäuslein zur Rehau, beim Übergang über die Audorfer Almen
1.) Als noch ein Bergsee klar und groß
In dieser Täler Tiefen floß,
Hab´ ich allhier in großer Pracht
Gelebt, geliebt und auch gedracht
Als Tazzelwurm.
2.) Vom Pentling bis zum Wendelstein
War Fels und Luft und Wasser mein,
Ich flog und ging und lag gerollt,
Und statt auf Heu schlief ich auf Gold
Als Tazzelwurm.
3.) Hornhautig war mein Schuppenleib
Und Feuerspei´n mein Zeitvertreib,
Und was da kroch den Berg herauf,
Das blies ich um und fraß es auf
Als Tazzelwurm.
4.) Doch als ich mich so weit vergaß
Und Sennerinnen roh auffraß,
Da kam die Sündflut grausenhaft
Und tilgte meine Bergwirtschaft
Zum Tazzelwurm.
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5.) Jetzt zier´ ich nur gemalt im Bild
Des Schweinesteigers neuen Schild,
Die Sennrin hört man jauchzend schrei´n,
Und keine fürcht´t das Feuerspei´n
Des Tazzelwurms.
6.) Und kommt so ein gelahrtes Haus,
So höhnt´s und spricht: "Mit dem ist´s aus,
Der war ein vorsündflutlich Vieh,
Doch weise Männer sah´n noch nie
Den Tazzelwurm."
7.) Kleingläub´ge Zweifler! kehrt nur ein
Und setzt auf Bier Tiroler Wein ...
Ob Ihr dann bis nach Kufstein fleucht,
Ihr spürt, daß ich Euch angekeucht
Als Tazzelwurm.
8.) Und ernsthaft spricht der Klausenwirt:
"Schwernot! woher sind die verirrt?
Das Fuhrwerk schwankt ... im Kopf ist Sturm ...
Die sahen all´ den Tazzelwurm!
Den Tazzelwurm."
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Quellen
- Scheffel, Joseph Viktor von (1867): Gaudeamus. - m. e. Einl. hrsg. v. Dr. Edm. von Sallwürk, 155 S., Leipzig (Reclam), o.J.
- [Ansichtskarte]: Unterer Tatzelwurmwasserfall. - L. Berchtenbreiter, Buch- u. Kunsthdlg., Rosenheim. - gestempelt am 24.04.1911
- [Ansichtskarte]: Gasthaus zum feurigen Tatzelwurm. Der Tazzelwurm. - O. Blaschke, Hoflieferant, Prien a. Chiemsee : Karte Nr. 860, herausgegeben 1907 (Stempel unleserlich)
- Bayerisches Geotopinventar, Nr. 187R003 - publiziert im Internet,
http://www.uok.bayern.de/static/GEOTOPE/GEOTOPE_343.html
[ Eine weitere Tatzelwurm-Ansichtskarte ]
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© MMIV by J. Georg Friebe
Erstellt 01.08.2004
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