Über die Entstehung der Drachen



Niemand wäre im Mittelalter auf die Idee gekommen, sich über die Herkunft der Drachen Gedanken zu machen. Sie waren Creaturen GOttes und existierten seit der Erschaffung der Welt. Dies änderte sich in der Neuzeit. Im 17. Jahrhundert wurden erste Zweifel an der realen Existenz solcher Untiere laut. Aber immerhin gestanden die Naturforscher ein, dass Drachen zumindest theoretisch möglich wären. Aus mumifizierten Rochen, Fledermäusen und anderen Bestandteilen wurden Drachen gebastelt. Sie fanden als Beispiele für mögliche, aber noch nicht entdeckte Lebewesen Eingang in die Naturalien- und Curiositätenkabinette, die Vorläufer unserer heutigen Museen (STECKNER, 1997).

Gleichzeitig wurde eine neue Frage laut: Wie konnten Drachen überhaupt entstehen? Die alte christliche Erklärung über die Erschaffung der Welt samt aller ihrer Lebewesen geriet immer mehr ins Wanken. Konnten solch schreckliche Ungeheuer überhaupt GOttes Geschöpfe sein? Doch dem Teufel wurden keinerlei lebensschaffende Kräfte zugestanden. Eine anderer Erklärung musste gefunden werden.

Zwischen 1683 und 1691 veröffentlichte Eberhard Werner HAPPEL seine Relationes Curiosae. Diese Sammlung von Merkwürdigkeiten enthielt gleichermassen Kommentare zum Tagesgeschehen, Berichte über exotische Länder und jüngste Erfindungen, sowie Beschreibungen von Landstrichen, deren Bewohnern und deren Sagenwelt. Das Buch wurde derart populär, dass während der folgenden Jahrzehnte eine Reihe gefälschter Ausgaben und Bände auf den Markt kam.

Natürlich konnte HAPPEL die Drachen nicht ignorieren. Zunächst berichtete er über Deodatus de Gozon, einen jungen Johanniter, der im Jahre 1345 auf Rhodos einen Drachen erschlagen haben soll. Danach erwähnte er einige – für uns wohlbekannte – Fakten: Es gäbe sehr unterschiedliche Drachen : solche mit Flügeln und andere ohne, manche mit vier und andere mit nur zwei Beinen. Die Füsse verglich er mit denen von Gans, Löwe oder Adler. Und alle Drachen seien giftig. Doch dann bemerkte er, dass diese Monster oder wunderlichen Creaturen unmöglich aus der geschlechtlichen Vereinigung von zwei Tieren unterschiedlicher Art hervorgehen können (wie etwa das Maultier). Denn es ist wohl bekannt, dass Drachen nur in den abgelegensten Gegenden wohnen, in Höhlen, in unzugänglichen Tälern oder in Wüsten. Nur Adler, Geier und andere Raubvögel sind ihre Gefährten. Zu einsamen Horsten verschleppen sie ihre Beute – Schlangen, Vögel, Hasen, Lämmer, Hunde, und sogar kleine Kinder – um sie dort in Ruhe zu verschlingen. Doch die verwesenden Überreste enthalten immer noch lebende Keime dieser unglücklichen Opfer. Natürlich konnten aus dieser Saat keine "normalen" Tiere hervorgehen. Doch wenn die Samen sich vermischen, könne in einer Art Fermentationsprozess ein Drache entstehen. Selbstverständlich würde dieser dann Merkmale aller beteiligten Arten zeigen: Kopf und Schwanz der Schlange, Flügel eines Vogels oder einer Fledermaus, Ohren vom Hasen und Beine von allen möglichen Tieren.

Leviathan, 5 kb

Natürlich hatte HAPPEL diese seltsame Theorie nicht erfunden. Auf der Suche nach ihrem Ursprung verlassen wir nun unsere Freunde, die Drachen, und wenden uns einem anderen Phänomen zu, das die Forscher des 16. und 17. Jahrhunderts in Erstaunen versetzte: figurierte Steine. Heute sprechen wir von Fossilien, ein Begriff, der damals platterdings noch ziemlich alles bezeichnete, das aus der Erde ergraben wurde: Versteinerungen ebenso wie römische Münzen, Mineralien oder Tonscherben. Über die Herkunft der "figurierten Steine" aber wurde noch heftig diskutiert. Erst zu Beginn des 18. Jahrhunderts erkannte – neben anderen - Johann Jakob SCHEUCHZER deren wahre Natur. Die wichtigsten Theorien wurden von Johann Bartholomaeus Adam BERINGER (1667-1740) in seiner Lithographiae Wirceburgensis (1726) vorgestellt.

Die "BERINGER´schen Lügensteine" bilden eines der faszinierendsten Kapitel in der Geschichte der Paläontologie (KIRCHNER, 1935; JAHN & WOOLF, 1963). BERINGER war ein virtuoso – ein gelehrter Amateur. Figurierte Steine begeisterten ihn. Am 31. Mai 1725 wurden ihm drei solche Steine präsentiert. Einer zeigte eine Sonne, die beiden anderen eine Art Wurm. Sein Interesse war geweckt. In den darauf folgenden Monaten konnte BERINGER auf einem Hügel bei Würzburg eine Unzahl weiterer Exemplare bergen. Um ihre Herkunft zu entschlüsseln, zog er sämtliche bislang bekannten Theorien zu Rate. Im Jahr 1726 veröffentlichte er seine Studien. Kurz darauf aber fand er einen Stein, der seinen eigenen Namen trug – und so merkte er plötzlich den Betrug. Seine Schätze waren Fälschungen. Er versuchte, alle Exemplare des Buches zurück zu kaufen und war bald finanziell ruiniert.

Viel wurde über die Urheber des "Scherzes" spekuliert. Der verbreitetsten Theorie zufolge soll der Hausfreund von BERINGERs Frau die Steine vergraben haben, um seinen Rivalen abzulenken und aus dem Haus zu locken. Andere sprachen von einem Studentenulk. Doch der Betrug hatte seinen Ursprung auf der Universität. Seine Kollegen J. Ignaz RODERIQUE, Professor für Geographie und Algebra an der Universität Würzburg, und Johann Georg von ECKHARD, Bibliothekar daselbst, hatten die Steine anfertigen lassen und ausgelegt, um BERINGER systematisch zu ruinieren (KIRCHNER, 1935), weil "er so überheblich war und alle anderen verachtete" (JAHN & WOOLF, 1963).

BERINGER hatte lange über die Entstehung der "figurierten Steine" nachgedacht. In der englischen Übersetzung seiner Lithographiae Wirceburgensis (JAHN & WOOLF, 1963) haben die Herausgeber im Anhang die wichtigsten Theorien seiner Zeit aufgelistet.

Die gebräuchlichste Erklärung interpretierte Versteinerungen – ganz im Einklang mit den Lehren des Christentums – als Beweise für die Allmacht GOttes. Manche betrachteten sie als ausserordentliche Manifestationen der platonischen Archetypen. Und für andere wiederum waren sie nichts anderes als ein lusus naturae, eine Laune oder ein Spiel der Natur. BERINGER hielt diese Sichtweise für die wahrscheinlichste.

Robert PLOT (1640-1696), erster Kurator des Ashmolean Museum, Sekretär der Royal Society, und Herausgeber der Philosophical Transactions wies diese populären Erklärungen – wie auch die Sintfluttheorie – zurück. Er ging von der grundlegenden Beobachtung aus, dass Salze immer in geometrischen Formen kristallisieren. Dies führte er auf eine spezielle "formende Kraft" (lat. vis plastica) zurück. Und wenn diese Kraft Salz zu komplexen geometrischen Figuren formen konnte, wieso sollte sie dann nicht auch Steine in Gestalt von Tieren hervorbringen können?

Diese Ideen wurden von Johann Jakob SCHEUCHZER (1672-1733) rundweg abgelehnt. Er war ein überzeugter Diluvianer. In seiner berühmten Arbeit Homo Diluvii Testis (1726) interpretierte er das Skelett eines miozänen Riesensalamanders (der heute seinen Namen trägt: Andrias scheuchzeri TSCHUDI) als die Überreste eines unglücklichen Menschen, der in der Sintflut umkam. SCHEUCHZERs bemerkenswertestes Buch ist aber Piscium Querelae et Vindiciae (1708) - "Die Klagen und Rechtsansprüche der Fische". Hier lässt er versteinerte Fische aus ganz Europa vor einem virtuellen Gerichtshof aufmarschieren. Sie verklagen die Anhänger solch unsinniger Theorien wie vis plastica oder lusus naturae, die ihre wahre Natur leugnen. Denn für SCHEUCHZER waren diese Versteinerungen die Überreste wirklicher Fische, die infolge der Sündhaftigkeit des Menschen in der biblischen Sintflut umgekommen sind. Natürlich hatte sich SCHEUCHZER mit dem Einwand auseinander gesetzt, dass Fische schwerlich ertrinken können. Mit Ausnahme von beispielsweise Lachs und Aal sind fast alle Fische strikt an Salz- bzw. Süsswasser gebunden. Während der Sintflut wurden die Wässer vermischt, und die Meeresfische mussten im Süsswasser umkommen. Umgekehrt wurden die Fische der Flüsse und Seen ins Meer gespült. Und schliesslich wurden beide Gruppen von den ungeheuren Schlammmassen erstickt.

SCHEUCHZERs Zeitgenosse Karl Nikolaus LANG vertrat eine weitere Theorie. Für ihn entstanden die "figurierten Steine" unter der Erde an Orten, wo tierische Samen oder Keime durch unterirdische Hitze, geeignete Flüssigkeiten, eine latente formende Kraft und einen befruchtenden Hauch "aktiviert" wurden. Dieser Prozess sollte weitaus schneller vor sich gehen als eine natürliche Geburt, war aber in den meisten Fällen unvollständig und führte zu nur teilweise ausgebildeten Körpern. Schneewasser sollte diesen Prozess positiv beeinflussen.

Aber LANG hatte lediglich eine ältere Hypothese von Edward LHWYD (1660-1709) modifiziert. LHWYD wurde 1691 Nachfolger von PLOT als Leiter des Ashmolean Museums. Die Meinung seines Vorgängers und Lehrers über die Entstehung von Fossilien teilte er nicht. Er wurde einer der bedeutendsten Vertreter des "Spermatischen Prinzips" oder lateinisch aura seminalis. Bereits durch Jahrhunderte war angenommen worden, dass allein dem Mann die Kraft der Reproduktion zukam. Der Kopf der Spermien – so glaubte man – enthalte bereits eine kleine Kreatur, die den späteren Erwachsenen repräsentiert. Die Frau stelle lediglich das geeignet Umfeld und die notwendige Nahrung zu Verfügung, damit das Spermium zum vollständigen Menschen heranwachsen konnte. Doch warum sollte nicht die Erde selbst durch eine geheimnisvolle Art "saliner Feuchtigkeit" diese Entwicklung hervorbringen können? Dann würde nichts den Prozess aufhalten, sobald sich tierische Samen in Spalten und Rissen in der Erde eingenistet hätten. Natürlich konnte so kein vollständiges Lebewesen entstehen. Nur die Gebärmutter herrschte das geeignete Umfeld, das für die Entwicklung perfekter Nachkommen notwendig war. Samen, die sich in den Bauch von Mutter Erde eingenistet hatte, würden sich ihrer Umgebung anpassen und folglich steinerne Nachkommen zeugen. Und meist hatten sie nicht einmal genügend Kraft, um ein vollständiges Lebewesen hervor zu bringen. So wurde erklärt, warum oft beträchtliche Teile des steinernen Tieres fehlten.

Um den Ursprung der Drachen zu erklären, griff HAPPEL auf LHWYDs "Spermatisches Prinzip" zurück. Er hielt es für eine Tatsache, dass in der Umgebung eines Raubvogelhorstes die Samen der unterschiedlichsten Tiere in der Luft umherschwirrten, freigesetzt durch den Verwesungsprozess in einer Art unvollkommener Urzeugung. Und natürlich vermischten sie sich, bevor sie ein geeignetes Habitat mit passender "saliner Feuchtigkeit" fanden. Denn die Keime einer einzelnen Tierart konnten für sich alleine keine lebensfähigen Nachkommen hervorbringen. Aber gemeinsam waren sie kräftig genug, um ein Monster oder eben einen Drachen zu gebären.

Unter den Gelehrten bildete das "Spermatische Prinzip" nur eine kurze Episode in der Geschichte der Paläontologie. Doch ausserhalb der Fachkreise wurde es recht populär. So konnte ZEDLER noch 1734 in seinem Universal-Lexicon die Entstehung der Drachen mit dieser Hypothese erklären.




Quellen:

  • HAPPEL, E.W. (1683-91): Groesste Denkwuerdigkeiten der Welt oder sogenannte Relationes Curiosae. - Reprint, 554 pp., Berlin (Rütten und Loening), 1990.
  • JAHN, M.E. & WOOLF, D.J. (1963): The Lying Stones of Dr. Johann Bartholomew Adam Beringer being his Lithographiae Wirceburgensis. - 221 pp., Berkeley & L.A. (Univ. California Press).
  • KIRCHNER, H. (1935): Die würzburger Lügensteine im Lichte neuer archivalischer Funde. - Zeitschr. dt. geol. Ges., vol.87, p. 607-615, Berlin.
  • SCHEUCHZER, J.J. (1708): Piscium Querelae et Vindiciae. - 36 pp., Tiguri [= Zürich].
  • STECKNER, C. (1997): Phantastische Belege oder phantastische Lebensräume? Fabelwesen in frühneuzeitlichen Naturalienkabinetten und Museen. - in: SCHMUTZ, H.-K.: Phantastische Lebensräume, Phantome und Phantasmen, p. 33-76, Marburg a/Lahn (Basilisken-Presse).
  • ZEDLER, J.H. (1734): Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste, vol. 7, col. 1374, Halle und Leipzig (Joh. Heinrich Zedler). - Reprint Graz (Akad. Druck- u. Verlagsanstalt), 1961.


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© MIIM / MMIII by J. Georg Friebe
Englische Fassung 28.10.1998 / Deutsche Version 30.03.2003