Die Drachen vom Pilatus



Ein feuerspeiender Drache fliegt zwischen Pilatus und Rigi (aus: Zimmermann, 1939)

Der wohl berühmteste Drachenberg der Schweiz ist der Pilatus bei Luzern. Die alten Sagen berichten vom unterschiedlichsten Aussehen seiner Bewohner. »Flügellose, geflügelte, fliegend-anzündende und fliegend-feuerspeiende« Drachen sollen auf diesem Berg gehaust haben. Zwischen Pilatus und Rigi flogen sie hin und her, und einer von ihnen liess den heil- und wunderkräftigen Luzerner Drachenstein fallen.

Eine andere Sage berichtet von einem Küfer, der auf dem Pilatus für sein Handwerk Holz hauen wollte. Dabei stürzte er aus Unachtsamkeit in eine Höhle. Als er wieder zu sich kam, sah er zu seinem Schrecken, dass die Höhle von zwei ungeheuerlichen Drachen oder Lindwürmern bewohnt war. Doch diese taten ihm kein Leid. Nachdem er einige Tage gehungert hatte, bemerkte er, dass die Drachen an einem bestimmten Felsen in der Höhle leckten, um den Hunger zu stillen. Der Küfer folgte ihrem Beispiel. Der Felsen erwies sich derart kräftigend, dass er ohne jede andere Nahrung den ganzen Winter in der Höhle überdauern konnte.

Als aber der Frühling gekommen war, hatte sich der eine Wurm reisefertig gemacht und war zur Höhle hinaus gefahren. Der andere wollte dem Küfer zu verstehen geben, dass er nun ebenfalls aufbrechen müsse. Doch der arme Mensch konnte nicht zum Höhleneingang hinauf klettern. Zweifelsohne auf Eingebung GOttes hängte er sich an den Schwanz des Ungeheuers. Er wurde vom Drachen mitgetragen und schliesslich an einem sicheren Ort abgesetzt. So ist der Mann nach halbjähriger Gefangenschaft in Gesellschaft der zwei Lindwürmer heim nach Luzern gekommen. Aus Dankbarkeit gegenüber GOtt dem Allmächtigen liess er für das Stift St. Leodegar ein schönes Messgewand sticken. Es wird von einem Seidenbild geziert, das den Küfer in der Höhle zwischen den zwei Drachen sitzend zeigt.

Der Küfer hängt am Drachenschwanz (Athanasius Kircher, 1664)

Über den ungewöhnlichen Namen des Berges berichtet die Sage: Pontius Pilatus, dessen Reinlichkeitsfimmel in der Bibel überliefert ist (Matth. 27, 24), wurde schliesslich doch seinem Herrn suspekt. Tiberius rief ihn nach Rom zurück und warf ihn in den Kerker. Pontius Pilatus sah nur einen Ausweg: Selbstmord. Wie damals üblich sollte der Leichnam im Tiber als Fischfutter dienen. Doch kaum hatte er das Wasser berührt, brach ein heftiges Gewitter los. Um den Schaden in Grenzen zu halten, wurde die Leiche wieder aus dem Fluss gefischt. Sie sollte nun in Vienne (Gallien) in der Rhone entsorgt werden. Das Ergebnis war dasselbe. Auch in Lausanne war man kein bisschen erfolgreicher. Die lange Reise hatte die unheilbringende Macht des toten Landpflegers nicht gebrochen: Auch hier verursachte er ein grässliches Unwetter.

Man beschloss also, in der Bergwelt fernab der Menschen nach einer geeigneten Ruhestätte zu suchen. Und so kam der Leichnam auf den Frakmont bei Luzern (wie der Pilatus früher hiess). Aber auch die Versenkung in einem kleinen Bergsee brachte nicht den gewünschten Erfolg. Pilatus nahm bald alle Höhen in Besitz und fuhr als scheussliches Ungeheuer kreuz und quer darüber hinweg. Erst ein fahrender Schüler aus Salamanca konnte ihn durch urkräftige Beschwörungen wieder in den Bergsee bannen. Nur wenn man in ärgerte und Steine oder gar Abfälle ins Wasser warf, donnerte er in gewohnter Manier los. Um dies zu verhindern war es Unbefugten strengstens verboten, zum Pilatussee hinauf zu steigen. Selbst Naturforscher wie Conrad Gesner mussten bei der Obrigkeit um Erlaubnis ansuchen.

Luzern und Pilatus um 1850 (aus: Zimmermann, 1939)

Wir können davon ausgehen, dass auf dem Berg in vorchristlicher Zeit die unterschiedlichsten (Natur-)Götter verehrt wurden. Neben den Quellen und Bächen war besonders der kleine See als Kultstätte prädestiniert. Diese Bräuche liessen sich in christlicher Zeit nur schwer ausrotten. So wurde der Frakmont vom Klerus mit demjenigen Mann in Verbindung gebracht, der für den Kreuzestod Christi verantwortlich war. Das Besteigungsverbot sollte - ebenso wie die Berichte über scheussliche Ungeheuer - die Landbevölkerung davon abhalten, zu ihren alten Kultstätten zu pilgern.


 

Quelle

  • Zimmermann, B. (1939): Pilatus. Der Berg und seine Bahn. - Festschrift zum 50. Jubiläum der Pilatus-Bahn. 43 S., Alpnachstad (Pilatus-Bahn-Gesellschaft).


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© MMIII by J. Georg Friebe
Erstellt am 11.01.2003